Ursachen verstehen, statt verurteilen

Mann drückt sein Gesicht in Latop Bildschirm
Fast jeder zweite Mann schaut einmal pro Woche Pornos. In der Folge kann die Empathiefähigkeit sinken. (Foto: Fotolia)

Nun auch im Tatort. Porno ist überall. Selbst das Familienlagerfeuer, als das der Sonntagabendkrimi gilt, ist erfasst. Pornografie ist in der Gesellschaft angekommen. Juhu, endlich raus aus dem Schmuddeleck, mag mancher denken. Laut Studien (zuletzt am Samstag in der Stuttgarter Zeitung veröffentlicht) konsumieren mehr als 44 Prozent der Männer mindestens einmal pro Woche Pornos.

Dabei bedienen die Clips in der Mehrzahl ein und dasselbe Muster: Frauen werden als Sexmaschinen dargestellt, die „einfach zu haben sind“. Dass diese schlichte Dramaturgie das Sexualleben der Betrachter beeinflusst, haben Hirnforscher mehrfach bestätigt. Pornografie-Konsum greift tief in die Empathiefähigkeit ein. Das führt dazu, dass nach Pornokonsum Männer und Frauen Vergewaltigung für weniger schlimm halten.

Pornographie als Ersatz für echte Sexualität

In unserer Arbeit begegnen wir der Pornosucht regelmäßig. Jonas zum Beispiel war wegen einer Sucht bereits in der Klinik. Er kam anschließend in eine unserer Männergruppe, um zu üben, wie er auf Frauen zugehen kann. Er gehört zu jener Gruppe Digital Natives, die einsam leben. Zu ihnen zählen die schüchternen Männer, die noch nie Sex hatten – außer mit sich selber. Bei ihnen ist der Pornographie-Konsum ein Ersatz, der verhindert, dass sie Frauen und echte Sexualität kennenlernen.

Wenn Jonas über seine Pornosucht spricht, tut er das ohne Scheu. Scham ist da, wenn er erzählt, schon Jahre lang mit keiner Frau mehr geschlafen zu haben. Jonas ist 35 Jahre alt. Seine Arbeit ist gekennzeichnet von kleinen Schritten. Aus dem Kreis der anwesenden Männer sucht er sich einen als Stellvertreterin für das Weibliche. Seine Wahl fällt auf einen Mann, der mit seinen schwarzen Haaren dem Frauentyp entspricht, den Jonas attraktiv findet. Als „sie“ ihm gegenüber steht, reagiert Jonas´ Körper sofort. Er spürt Druck in seiner Brust. Sein Herz schlägt nervöser. Sein Atem wird schneller und trotzdem muss Jonas lächeln.

Dem Unbewussten eine Gestalt geben

Darauf angesprochen, kann er erkennen, dass das seine typische Reaktion auf sein Schamgefühl ist. Als ich ihn frage, was diese Frau ihm für eine Botschaft sendet, antwortet er erstaunt: „Sie sagt: Was willst du von mir?“. Ihr Tonfall signalisiert Interesse. Interessiert an ihm als Mann. Als Jonas auch das realisiert, entspannt er sich. Er kann das Gegenüberstehen sogar genießen. Jetzt ist sein Lächeln weniger Scham und viel mehr Freude. Für heute reicht ihm das. In der Gestalttherapie und im Psychodrama geht es darum, dem Unbewussten eine Gestalt zu geben. Es sichtbar und erlebbar zu machen. Jonas hat erlebt, dass er in Kontakt gehen kann – ohne abgewiesen zu werden.

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