Arbeiten mit der Wut
Lars ist richtig sauer. „Ich könnte diesem Depp eine reinhauen“, schnaubt er in einer unserer Gruppenarbeiten. Sein Körper bebt, die Hände sind zu Fäusten geballt. Nur noch ein kleiner Funke und der 45-Jährige explodiert gleich. Bei der Prozessarbeit über einen ehemaligen Freund, ist Lars sehr in Rage gekommen. Jeder im Raum spürt, diese Wut muss jetzt raus. Sofort. Sonst platzt der Mann noch. Oder verletzt womöglich Dritte.
Kampf- oder Flucht-Modus
Wenn wir wütend sind, schüttet unser Körper das Hormon Noradrenalin aus. Unser Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Muskeln werden besser mit Sauerstoff versorgt und spannen sich an. Unser Organismus setzt Energien frei. Wir bereiten uns vor auf Kampf oder Flucht. Diese Reaktionen sind wichtig, haben sie uns doch tausende Jahre gedient, um im Notfall die eigene Haut zu retten – etwa, um einen tödlichen Angriff abzuwehren oder ihm zu entkommen. Unsere Wut treibt uns zu Höchstleistungen an. Wir konzentrieren uns ganz auf die Bedrohung. Unser Habitus, unsere Aura sendet das Signal: Vorsicht! Mit dem ist nicht zu spaßen! Ja auch unserer Stimme verändert sich: Wenn Ärger mitschwingt, können wir diesen deutlich besser erkennen als etwa Angst oder Freude. Und das losgelöst von der jeweiligen kulturellen Prägung.
Flammen mit Benzin löschen
Um nicht zu explodieren, soll nun auch Lars Dampf ablassen. Katharsis reinigt, so die Idee der „geläuterten Seele“, die auf die Psychoanalyse zurück geht. Wut muss raus aus dem Gewebe, sie braucht ein Ventil, damit sie sich nicht im Organismus staut. Doch diese Idee hat einen Haken: Dampf abzulassen, um Wut zu reduzieren, ist, als löscht man Feuer mit Benzin. Es heizt die Flamme nur noch stärker an. Hintergrund ist ein Effekt namens Verhaltensfeedback. Sehr oft folgen unsere Gefühle unseren Taten – und nicht umgekehrt. Auch wenn wir das gerne so hätten. Aber unsere Hormone sind schneller als unser Verstand. Wer also seine Wut auslebt, kommt allein dadurch schon mehr in Rage als im Ruhezustand.
Die Wut verrauchen lassen
Das hat Folgen: Wer seinem Zorn Ausdruck verleiht, erleichtert sich damit nur kurzzeitig. Auf lange Sicht provoziert schreien und schlagen oft Rache und Vergeltung, die dann erneute Wutausbrüche nach sich ziehen. Ein Teufelskreis entsteht. Zudem sind Wutwirbelstürme ein Risiko für unseren Bluthochdruck und verengen das Herz. Wenn unsere Herzkranzgefäße verhärten sprechen wir von koronaren Herzerkrankungen. Dazu kommen Folgen für die Umwelt: Studien rücken die Zornesneigung in die Nähe von Gewalt in der Partnerschaft, Kindesmisshandlung und sogar Mord. Ein hitziges Gemüt ist ein schlechter Ratgeber, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen.
Gewebestau auflösen
Also mache ich keinen klassischen Wut-Prozess mit Lars. Es gibt kein Schreien und keine Schläge auf eine Boxer-Pratze – so unbefriedigend sich das auch im ersten Moment anfühlt. Vielmehr lade ich ihn ein, mit seiner Wut in Kontakt zu kommen. Sie in seinem Körper zu spüren, zu atmen, sie sich vorzustellen, sie wahrzunehmen und ihr dankbar zu sein. Alles auf eine liebevolle und friedliche Weise. Ich biete Lars an, die Energie der Wut wie durch sich hindurchgleiten zu lassen. Damit sie sich nicht in seinem Gewebe staut und für Blockierungen und damit Krankheiten sorgt. „Die Wut verrauchen lassen“, ist eine Redensart, die für diesen Prozess gut passt.
Der Trauer Raum geben
Und Lars? Er spürt in sich hinein. Unter seiner Wut kommt Trauer zum Vorschein. Nachdem der Zorn verflogen ist, darf sie sich Raum nehmen. Lars spürt auch sie in seinem Körper. Ich lade ihn ein, dieses Gefühl zu erleben, es zu verstärken. Das spannende an dieser Arbeit ist, dass in diesem Moment Lars gar nicht mehr wichtig ist, auf wen er sauer und was der Grund für seine Wut ist. Er ist ganz bei sich und seinem Gefühl angekommen.