Aufschieberitis hat einen miesen Ruf
Wer aufschiebt, gilt als faul oder im besseren Fall als Schlitzohr, denn er hofft, andere erledigen die Jobs. Doch nun zeigen neue Forschungen: Vertagen kann hilfreich sein.
Das mache ich morgen
Wenn, wie heute, ein Psychologie-Artikel auf meinem Tisch landet und ich mir vornehmen, darüber in meinem Blog zu schreiben, lege ich ein Word-Dokument an, speichere den Link und denke mir: Das mache ich morgen. Es gibt Wichtigeres zu tun. Den Kontostand checken etwa, Frau und Kindern nette Kurznachrichten schreiben oder in 20 Minuten den Sohn von der Tagesmutter abholen. Ich bin dann ein typischer Fall von Aufschieberitis. Denn meinen Blogeintrag habe ich nicht geschrieben. Mein Belohnungssystem hat mir stattdessen die nächstgelegene Endorphin-Ausschüttung ermöglicht – und die bekomme ich, wenn ich auf meine Handlung sofort ein positives Ergebnis erlebe. Meine Seele schnell gestreichelt wird.
Wenn das Gehirn nichts belohnt
Das passiert, wenn nette News von meinen Lieben in meinem Messenger blinken. Oder meine Rechnungen bezahlt werden und ich froh gelaunt zum Fahrradtaxi mutiere und unseren Zweijährigen aus seiner Krabbelgruppe abhole. Nichts passiert hingegen, wenn ich für diesen Blogpost grübelnd über meiner Tastatur kauere, Textpassagen ins Brett hacke, diese wegen missfallen lösche und neu drauflos hämmere. Da belohnt mein Hirn nichts. Im Gegenteil. Es straft mich mit gebremster Glückshormonausschüttung. Kein Serotonin, kaum Oxytocin, weil sich das positive Ergebnis nicht sofort einstellt und mich mein Computer nicht liebhat.
Wir schieben auf, was wir nicht mögen
Wie mir geht es Millionen Menschen. Sie prokrastinieren, weil sie nicht unmittelbar belohnt werden. Verhaltensgenetiker Daniel Gustavson von der Uni in Colorado kommt zum Ergebnis: Gewissenhafte prokrastinieren weniger; wer emotional labil ist, tut es öfter. Arbeitswissenschaftler der Uni Wien haben hingegen herausgefunden: Wenn uns Situationen langweilen oder wir uns darüber ärgern, prokrastinieren wir eher. Macht uns ein Job Spaß und wir dürfen kreativ sein und Probleme lösen, desto weniger schieben wir die Tätigkeit auf.
Prioritäten setzen
In manchen Situationen kann es sogar gut sein, etwas aufzuschieben. In einer Arbeitswelt, in der hinter jeder erledigten Aufgabe die nächste lauert und jede beantwortete Mail midestens eine neue nach sich zieht, ist Vertagen eine Form des Prioritätensetzen. Aufschieben wird zur Auszeit, in der wir unsere Akkus speisen.
Frank Partnoy ist der Überzeugung: Wer eine kreative Aufgabe aufschiebt, kommt auf ganz neue Ideen. Der kalifornische US-Finanzprofessor meint, es lohne sich, Entscheidungen so lange wie möglich aufzuschieben. Damit man mehr Informationen sammeln kann.
Ein Freund sagte einmal zu mir – beim Blick auf seinen überquellenden Schreibtisch – „es ist nicht die Frage, was erledige ich heute zuerst. Es ist die Frage, welches Projekt gehe ich nicht an“. Aussortieren wird im Informations- und Möglichkeiten-Zeitalter zur wichtigen Fähigkeit. Also zu entscheiden, was ist wie wichtig und was gehe ich gar nicht erst an.
Kenne ich von mir
Meinem Prokrastinations-Verhalten bin ich übrigens über die Prozess-Arbeit auf die Schliche gekommen. Mich hat die Aufscheiberitis eines Klienten geärgert. Ich fühlte mich um meine Zeit beraubt, weil ich immer wieder nachfragen musste, ob und wann Termine zustande kommen. Ich habe erkannt, dass ich diesen Teil auch in mir habe. Dass ich auch Dinge oder Tätigkeiten aufschiebe, wenn sich mir der Sinn (Belohnung!) nicht erschließt.
Das Vertagen vertagen
Heute weiß ich, dass ich Projekte auch fallen lassen darf oder sie gar nicht erst angehen muss. Das Vertagen also vertagt ist. Denn für nicht gestartete Projekte gibt es auch keinen Aufschiebemodus. Stattdessen mehr Klarheit, mehr Zeit für die Dinge, die ich gerne mache.